ALS DIE WELT IN SCHERBEN FIEL


 

Breslau während des Siebenjährigen Krieges,  Johann-Gottfried Rüder, 1760

Die Stadt Breslau in Schlesien bzw. Polen kann auf eine über 1000-jährige und bewegte Geschichte mit unterschiedlichen Akteuren zurückblicken, sodass die Stadt heute von vielerlei kulturellen Einflüssen profitiert. Dabei gab es immer wieder Katastrophen wie zum Beispiel Stadtbrände im Mittelalter, wobei die Stadt aber nur zweimal durch kriegerische Handlungen sprichwörtlich ausgelöscht wurde. Nach dem Einfall der Mongolen in Zentraleuropa im Jahre 1241 komplett geplündert und zerstört, wurde die Stadt unmittelbar danach von deutschen Siedlern wiederaufgebaut, was bis 1261 dauerte, und sie waren für viele Jahrhunderte bis 1945 die prägende Kraft der Stadt.

Breslau, Neumarkt, 1945

Gegen Ende des 2. Weltkrieges erklärten die Nazis die Stadt Breslau im Jahr 1945 als Ganzes zur militärischen Festung, die es mit allen Mitteln zu verteidigen gälte. Durch den hierdurch entstandenen Häuserkampf zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee in großen Teilen verwüstet – wurde die Stadt danach in zweifacher Hinsicht ein Symbol der Migration und Vertreibung, denn gemäß den Vereinbarungen der Alliierten mussten nach Ende des 2. Weltkrieges nahezu alle noch verbliebenen deutschen Bewohner die Stadt und Schlesien verlassen, um Platz zu machen für expatriierte Polen aus polnischen Gebieten im Osten – Territorien, die nunmehr von der Sowjetunion besetzt und beansprucht wurden. Die neuen polnischen Bewohner und Bürger haben mit viel Mühe und Energie über längere Zeit Breslau nach den Wirren des Kriegs wiederaufgebaut, sodass man auch heute wieder die vielen historischen Häuser der verschiedenen Bauepochen und Stile in der Altstadt bewundern kann.

Die fünfte Fassade des Marktes,  Jurek Kozieras

In seinen Assemblagen setzt sich deren Erschaffer Jurek Kozieras seit dem Jahr 2000 quasi archäologisch mit der Stadtgeschichte Breslaus auseinander. Seine Arbeiten sind aus Alltagsgegenständen bzw. Resten davon entstanden, die er in der Nähe seines Hauses im Breslauer Stadtteil Herdain (Gaj) gefunden hat, nachdem Bagger dort im Rahmen eines Neubaus mit Erde und Schutt all diese Relikte und Schätze der ehemaligen deutschen und jüdischen Bewohner aus der Tiefe ans Tageslicht beförderten.

Detailansicht aus: Meine kobaltblaue Ballade,  Jurek Kozieras

Entstanden sind hierdurch phantastische, surreale und teilweise auch gemalte Objekte aus einer Grenzregion im Spannungsfeld unterschiedlicher nationaler Diskurse, auch wenn sich die Grenze zwischen Polen und Deutschland seit 70 Jahren nach Westen an die Ufer von Oder und Neiße verschoben hat. Für Jurek Kozieras ist es bei seiner Arbeit mit den historischen Fundstücken aber nicht wichtig, welche Nationalität die früheren Benutzer dieser alltäglichen Dinge hatten, sondern einzig und allein die Tatsache, dass es sich hierbei um Spuren und von der Geschichte vergessene Hinterlassenschaften ehemaliger Breslauer handelt, die in diesen Arbeiten wieder Gehör in der heutigen Zeit finden.

Reisefieber, Jurek Kozieras

Der regionale Aspekt ist also eine treibende Kraft dieser Kreationen, welche in der Tradition von Kurt Schwitters oder auch von Hannah Höch stehen. Die während der sehr langen kommunistischen Ära verdrängte deutsche und jüdische Geschichte der Stadt bekommt durch diese Arbeiten so auch wieder einen Platz im Gedächtnis der heutigen Bewohner, und die Ausstellung seiner Assemblagen stieß vor 17 Jahren in Breslau auf so großes Interesse, dass die Ausstellung dort verlängert werden musste

Gespräch mit Kurt, Jurek Kozieras

In einer Zeit, wo eine Vielzahl von Politikern in allen möglichen Ländern wieder eifrig alte Feindbilder längst vergangener Zeiten reaktivieren und pflegen, sind diese Assemblagen im Gegensatz dazu visionäre und sehr komplexe Botschaften einer bei aller gepflegten Tradition auch modernen und aufstrebenden Stadt im Herzen von Europa, heute wird sie Wroclaw genannt.

 

Lens-Artists Photo Challenge #253 – Fragments